Das Wichtigste der Woche
Zwei Schritte vor, eineinhalb Schritte zurück
BlackRock Marktausblick 23. Juni 2020
Krisenbewältigung klingt auf europäisch selten harmonisch. Das galt zu Zeiten der Eurokrise und das gilt auch jetzt wieder bei der Auseinandersetzung mit der Coronakrise. Einigkeit herrscht zumeist nur darüber, dass man sich erst einmal nicht einig ist und so gestalteten sich auch die Verhandlungen über den EU-Wiederaufbaufonds in der letzten Woche wie erwartet schwierig. Bei gleich einer ganzen Reihe an Themen konnte auf dem virtuellen EU-Gipfel kein Konsens herbeigeführt werden. So steht etwa weiter die ganz grundsätzliche Frage nach dem angemessenen Volumen des Fonds im Raum – einige Länder halten die avisierten 750 Milliarden Euro für zu viel, während andere diese Summe als absolute Untergrenze verstehen. Auch der Verteilungsschlüssel der Hilfen, die Frage nach deren Konditionalität oder aber auch das Verhältnis von Krediten und direkten Hilfen blieb ungeklärt.
Marktausblick mit Felix Herrmann am 23.06.2020
Und obwohl europäische Krisenpolitik erneut dem Muster „zwei Schritte vor, eineinhalb Schritte zurück“ zu folgen scheint, macht der Stand der Verhandlungen und vor allem die ungewohnte deutsche Position zu den Hilfen, die einem Paradigmenwechsel gleichkommt, aus Sicht Europas Mut für die Zukunft. Bundeskanzlerin Merkel bestätigte am Freitag die grundsätzliche Einigkeit der Mitgliedsstaaten, Hilfen in Höhe von mehreren hundert Milliarden zu vergeben sowie einen Konsens dahingehend, dass die EU zukünftig in die Lage versetzt werden soll, Anleihen am Kapitalmarkt zu begeben. Was vielleicht zunächst wenig revolutionär klingen mag, ist für Deutschland ein Sprung über den eigenen langen Schatten. Waren in der Vergangenheit erste Reflexe aus Deutschland stets national und nur selten solidarisch europäisch, ist Deutschland nun – kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft Anfang Juli – bereit, seiner Verantwortung in Europa stärker gerecht zu werden. Das ist gut so, denn die politische Dimension und hier vor allem die deutsche Bereitschaft einer gemeinsamen Verschuldung zuzustimmen, könnte langfristig für Europa von größerer Bedeutung sein, als es die Hilfen aus rein wirtschaftlicher Sicht sind. Deutschland ist zu Beginn des letzten Jahrzehnts nicht nur glimpflicher durch die Eurokrise gekommen. Es ist bislang auch mit weit weniger Blessuren durch die aktuelle Krise gesteuert, was es fast zwangsläufig zu mehr Solidarität in einem Europa verpflichtet, das nur gemeinsam bestehen kann. Der geplante Nettobeitrag Deutschlands zum EU-Wiederaufbaufonds in Höhe von etwa vier Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ist, wenn die Gelder Europa tatsächlich rasch auf die Beine helfen, gut investiert, weil am Ende Deutschland enorm von mehr Wohlstand jenseits seiner Grenzen profitiert.
Im EZB-Turm dürften die Verhandlungen über die EU-Hilfen gebannt verfolgt werden. Da sich die Zentralbank allerdings nicht allein auf die Fiskalpolitik verlassen will und erfahrungsgemäß auch selten kann, ist sie in der zurückliegenden Woche erneut selbst aktiv geworden. Rund 1,3 Billionen Euro an Krediten mit einer Laufzeit von drei Jahren wurden an Banken in der Eurozone vergeben – und das sogar zu einem Zinssatz, der mit bis zu minus einem Prozent unterhalb des Einlagesatzes der EZB liegt. Noch nie zuvor wurde im Rahmen einer einzelnen TLTRO-Operation so viel Liquidität unter die Banken der Eurozone gebracht. Die entstandene Nettoliquidität durch die Operation in Höhe von knapp 550 Milliarden Euro dürfte über Umwege in Staatsanleihen fließen. Da in diesem Jahr mit zusätzlichen 1,5 Billionen Euro an Staatsanleiheemissionen in der Eurozone zu rechnen ist, werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Staaten finden dankbare Abnehmer für ihre zusätzlichen Emissionen, sodass die Gefahr steigender Zinsen gebannt sein sollte. Die Banken der Eurozone können ihrerseits quasi risikolose „Carry Trades“ eingehen und die Zinsdifferenz zwischen Staatsanleiherenditen und dem TLTRO-Zinssatz vereinnahmen. Ein Subventionsprogramm also, das europäische Banken sehr gut gebrauchen können. Obwohl sie mit soliden Kapitalpuffern in die Coronakrise gestartet sind, stehen ihnen harte Zeiten bevor. Bis dato ist die Coronakrise (noch) keine Bankenkrise. Dafür zu sorgen, dass das so bleibt, ist im Sinne der EZB. Allerdings hat das Volumen ausfallgefährdeter Kredite durch die Krise enorm zugenommen. Die Deutsche Bundesbank rechnete jüngst vor, dass deutsche Banken, wenn es ungünstig läuft, sogar 100 Milliarden Euro an Verlusten durch ausfallende Kredite erleiden werden. Die bereits getätigte Risikovorsorge der Banken, die seit der Finanzkrise vorgeschrieben ist, würde in diesem Szenario nicht ausreichen. Insofern verwundert es nicht, dass die EZB offenbar bereits weiterdenkt und eine „Bad Bank“ für notleidende Kredite in Erwägung zieht.
Was das für Anleger bedeutet
Obwohl der ökonomische Himmel über Europa alles andere als wolkenfrei ist, gibt es doch Anlass für Optimismus. Wie auch immer die genaue Höhe des EU-Wiederaufbaufonds ausfallen wird, die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Krise kann sich in Europa bereits bis hierhin sehen lassen. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass sie zu den ausgeprägten automatischen Stabilisatoren wie der Arbeitslosenversicherungen hinzukommt. Das unterscheidet die Lage etwa zu den USA, wo die Erholung nach der Krise auch aufgrund der deutlich ungünstigeren Infektionslage langsamer vonstattengehen dürfte als in Europa. Gut möglich also, dass sich europäische Aktien in der zweiten Jahreshälfte 2020 besser schlagen als der Durchschnitt. Wir vom BlackRock Investment Institute ziehen daher eine Heraufstufung unserer Anlageempfehlung auf „übergewichten“ für europäische Aktien in Erwägung.
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